% @incollection{jg_kl_1_gedanken, % author = "Jacob Grimm", % title = "{G}edanken wie sich die sagen zur poesie und % geschichte verhalten", % booktitle = "Jacob Grimm. Kleinere Schriften 1. % (2.\,Auf{"|}lage, 1879) Reden und Abhandlungen. % Mit einem Vorwort von Otfrid Ehrismann", % publisher = "Olms -- Weidmann", % address = "Hildesheim / Z{\"{u}}rich / New York", % year = "1991", % pages ="[400]--404", % colophone = "Jacob Grimm und Wilhelm Grimm % Werke % Forschungsausgabe % Herausgegeben von % Ludwig Erich Schmitt % Abteilung I % Die Werke Jacob Grimms % Band 1 % Kleinere Schriften 1 (2. Auf{"|}lage, 1879) % Nach der Ausgabe % von Karl M{\"{u}}llenhoff und Eduard Ippel % neu herausgegeben von % Otfrid Ehrismann", % language = "German", % } % % Originaltext f"ur das LaTeX-Quelldokument % bearbeitet und redigiert von Y. Nagata 21. M"arz 2003 % \titel{GEDANKEN WIE SICH DIE SAGEN ZUR POESIE UND GESCHICHTE VERHALTEN.} \untertitel{Zeitung f"ur einsiedler (Tr"ost Einsamkeit, herausgegeben von Ludwig Achim von Arnim) 1808 no. 19. 20.} % ANHANG. %S.[400] % GEDANKEN WIE SICH DIE SAGEN ZUR POESIE %S.[400] % UND GESCHICHTE VERHALTEN. %S.[400] % Zeitung f"ur einsiedler (Tr"ost Einsamkeit, herausgegeben von Ludwig Achim %S.[400] % von Arnim) 1808 no. 19. 20. %S.[400] In unserer zeit ist eine grosze liebe f"ur volkslieder ausgebrochen, %S.[400] und wird auch die aufmerksamkeit auf die sagen %S.[400] bringen, welche sowol unter demselben volk herumgehen, als %S.[400] auch in einigen vergessenen pl"atzen aufbewahrt worden sind. %S.[400] oder vielmehr, (da die sagen auch die lieder erweckt haben %S.[400] w"urden,) die immer mehr lebhaftigrkeit gewinnende erkenntnis %S.[400] des wahren wesens der geschichte und der poesie hat dasjenige, %S.[400] was bisher ver"achtlich geschienen, nicht wollen vergehen lassen, %S.[400] welches aber die h"ochste zeit geworden ist, beieinander zu versammeln. %S.[400] Man streite und bestimme, wie man wolle, ewig gegr"undet, %S.[400] unter allen v"olker- und l"anderschaften ist ein unterschied zwischen %S.[400] natur und kunstpoesie (epischer und dramatischer, poesie %S.[400] der ungebildeten und gebildeten) und hat die bedeutung, dasz %S.[400] in der epischen die thaten und geschichten gleichsam einen laut %S.[400] von sich geben, welcher forthallen musz und das ganze volk %S.[400] durchzieht, unwillk"urlich und ohne anstrengung, so treu, so %S.[400] rein, so unschuldig werden sie behalten, allein um ihrer selbst %S.[400] willen, ein gemeinsames, theures gut gebend, dessen ein jedweder %S.[400] theil habe. dahingegen die kunstpoesie gerade das sagen %S.[400] will, dasz ein menschliches gem"ut sein inneres blosz gebe, seine %S.[400] meinung und erfahrung von dem treiben des lebens in die welt %S.[400] giesze, welche es nicht "uberall begreifen wird, oder auch, ohne %S.401 dasz es von ihr begriffen sein wollte. so innerlich verschieden %S.401 also die beiden erscheinen, so nothwendig sind sie auch in der %S.401 zeit abgesondert, und k"onnen nicht gleichzeitig sein, nichts ist %S.401 verkehrter geblieben, als die anmaszung epische gedichte dichten %S.401 oder gar erdichten zu wollen, als welche sich nur selbst zu %S.401 dichten verm"ogen. %S.401 Ferner eigibt sich, wie poesie und geschichte in der ersten %S.401 zeit der v"olker in einem und demselben flusz str"omen, und wenn %S.401 Homer von den Griechen mit recht ein vater der geschichte %S.401 gepriesen wird, so d"urfen wir nicht l"anger zweifel tragen, dasz %S.401 in den alten Nibelungen die erste herlichkeit deutscher geschichte %S.401 nur zu lange verborgen gelegen habe. %S.401 Nachdem aber die bildung, dazwischen trat, und ihre herschaft %S.401 ohne unterlasz erweiterte, so muste, poesie und geschichte %S.401 sich auseinander scheidend, die alte poesie aus dem kreis ihrer %S.401 nationalit"at unter das gemeine volk, das der bildung unbek"ummerte, %S.401 fl"uchten, in dessen mitte sie niemals untergegangen ist, %S.401 sondern sich fortgesetzt und vermehrt hat, jedoch in zunehmender %S.401 beengung und ohne abwehrung unvermeidlicher einfl"usse der gebildeten. %S.401 Diesz ist der einfache gang, den es mit allen sagen des %S.401 volks, so wie mit seinen liedern zu haben scheint, seitdem ihr %S.401 begriff eine etwas ver"anderte richtung genommen, und sie aus %S.401 volkssagen, \dasheisst nationalsagen, volkssagen, \dasheisst des gemeinen %S.401 volks geworden sind. ich wenigstens meinerseits habe es nie %S.401 glauben k"onnen, dasz die erfindungen der gebildeten dauerhaft %S.401 in das volk eingegangen, und dessen sagen und b"ucher aus %S.401 dieser quelle entsprungen w"aren. %S.401 Treue ist in den sagen zu finden, fast unbezweifelbare, weil %S.401 die sage sich selber ausspricht und verbreitet, und die einfachheit %S.401 der zeiten und menschen, unter denen sie erhallt, wie aller %S.401 erfindung an sich fremd, auch keiner bedarf. daher alles, was %S.401 wir in ihnen f"ur unwahr erkennen, ist es nicht, insofern es nach %S.401 der alten ansicht des volkes von der wunderbarkeit der natur %S.401 gerade nur so erscheinen, und mit dieser zunge ausgesprochen %S.401 werden kann. und in allen den sagen von geistern, zwergen, %S.401 zauberern und ungeheuern wundern ist ein stiller aber wahrhaftiger %S.402 grund vergraben, vor dem wir eine innerliche scheu %S.402 tragen, welche in reinen gem"utern die gebildetheit nimmer verwischt %S.402 hat und aus jener geheimen wahrheit zur befriedigung %S.402 aufgel"oset wird. %S.402 Jemehr ich diese volkssagen kennen lerne, desto weniger %S.402 ist mir an den vielen beispielen auffallend die weite ausbreitung %S.402 derselben, so dasz an ganz verschiedenen "ortern, mit andern %S.402 namen und f"ur verschiedene zeiten dieselbe geschichte erz"ahlen %S.402 geh"ort wird. aber an jedem orte vernimmt man sie so neu, land %S.402 und boden angemessen, und den sitten einverleibt, dasz man %S.402 schon darum die vermutung aufgeben musz, als sei die sage %S.402 durch eine anderartige betriebsamkeit der letzten jahrhunderte %S.402 unter die entlegenen geschlechter getragen worden. es ist das %S.402 volk dergestalt von ihr erf"ullt gewesen, dasz es benennung, zeit, %S.402 und was "auszerlich ist, alles vernachl"assigt, nach unschuld in %S.402 irgend eine zeit versetzt, und wie sie ihm am n"achsten liegen, %S.402 namen und "orter unterschiebt, den unverderblichen inhalt aber %S.402 niemals hat fahren lassen, also dasz er die l"auterung der jahrhunderte %S.402 ohne schaden ertragen hat, angesehen die geerbte anh"anglichkeit, %S.402 welche ihn nicht wollen ausheimisch werden lassen. %S.402 daher es im einzelnen eben so unm"oglich ist, den eigentlichen %S.402 ursprung jeder sage auszuforschen, als es erfreulich bleibt, dabei %S.402 auf immer "altere spuren zu gerathen, wovon ich anderw"arts %S.402 einige beispiele bekannt gemacht habe. %S.402 Auch ist ihre "oftere abgebrochenheit und unvollst"andigkeit %S.402 nicht zu verwundern, indem sie sich der ursachen, folgen und des %S.402 zusammenhangs der begebenheiten g"anzlich nicht bek"ummern, %S.402 und wie fremdlinge dastehen, die man auch nicht kennet, aber %S.402 nichts desto weniger versteht. %S.402 In ihnen hat das volk seinen glauben niedergelegt, den es %S.402 von der natur aller dinge hegend ist, und wie es ihn mit seiner %S.402 religion verflicht, die ihm ein unbegreifliches heiligthum erscheint %S.402 voll seligmachung. %S.402 Wiederum erkl"art sein gebrauch und seine sitte, welche %S.402 hiernach genau eingerichtet worden sind, die beschaffenheit %S.402 seiner sage und umgekehrt, nirgends bleiben unselige l"ucken. %S.402 Wenn nun poesie nichts anders ist und sagen kann, als %S.403 lebendige erfassung und durchgreifung des lebens, so darf man %S.403 nicht erst fragen: ob durch die sammlung dieser sagen ein dienst %S.403 f"ur die poesie geschehe. denn sie sind so gewisz und eigentlich %S.403 selber poesie, als der helle himmel blau ist; und hoffentlich wird %S.403 die geschichte der poesie noch ausf"uhrlich zu zeigen haben, dasz %S.403 die s"ammtlichen "uberreste unserer altdeutschen poesie blosz auf %S.403 einen lebendigen grund von sagen gebaut sind und der maszstab %S.403 der beurtheilung ihres eigenen werths darauf gerichtet werden %S.403 musz, ob sie diesem grund mehr oder weniger treulos geworden %S.403 sind. %S.403 Auf der andern seite, da die geschichte das zu thun hat, %S.403 dasz sie das leben der v"olker und ihre lebendige thaten erz"ahle, %S.403 so leuchtet es ein, wie sehr die traditionen auch ihr angeh"oren. %S.403 diese sagen sind gr"unes holz, frisches gew"asser und reiner laut %S.403 entgegen der d"urre, lauheit und verwirrung unserer geschichte, %S.403 in welcher ohnedem zu viel politische kunstgriffe spielen, statt %S.403 der freien k"ampfe alter nationen, und welche man nicht auch %S.403 durch verkennung ihrer eigentlichen bestimmung verderben sollte. %S.403 das kritische princip, welches in wahrheit seit es in unsere geschichte %S.403 eingef"uhrt worden, gewissermaszen den reinen gegensatz %S.403 zu diesen sagen gemacht, und sie mit verachtung verstoszen %S.403 hat, bleibt an sich, obschon aus einer unrechten veranlassung %S.403 sch"adlich ausgegangen, unbezweifelt; allein, nicht zu sehen, dasz %S.403 es noch eine wahrheit gibt, auszer den urkunden, diplomen und %S.403 chroniken, das ist h"ochst unkritisch\footnote{ich f"uhre mit freuden an, was Joh.\,M"uller in eben dem sinn gesagt hat: buch 1, cap.\,16, note 230. buch 1, cap.\,10, note 115. buch 4, cap.\,4, note 28.}, und wenn die geschichte %S.403 ohne die menge der zahlen und namen leicht zu bewahren und %S.403 erhalten w"are, so k"onnten wir deren in so weit fast ent"ubrigt %S.403 sein. so l"assig immer, wie bereits erw"ahnt worden ist, die %S.403 sagen in allem "auszern erfunden werden, so ist doch im ganzen %S.403 das innerste leben, dessen es bedarf; wenn die w"orter noch die %S.403 rechten w"aren, so m"ogte ich sagen: es ist wahrheit in ihnen, %S.403 ob auch die sicherheit abgeht. sie mit dem gesammelten geschichtsvorrath %S.403 in vereinigung zu setzen, wird blosz bei wenigen %S.403 gelingen, also, wie einerseits dieses unternehmen unn"othige m"uhe %S.404 und vergeblichen eifer nach sich ziehen m"uste, w"urde es auf %S.404 der andern seite th"origt sein, die so m"uhsam und nicht ohne %S.404 grosze opfer errungene sicherheit unserer geschichte durch die %S.404 einmischung der unbestimmtheit der sagen in gefahr zu bringen. %S.404 aber darum ist im grunde auch denjenigen nichts an den sagen %S.404 verloren, welche lebhaft und aufrichtig gefaszt haben, dasz die %S.404 geschichte nichts anderes sein solle, als die bewahrerin alles %S.404 herlichen und groszen, was unter dem menschlichen geschlecht %S.404 vergeht und seines siegs "uber das schlechte und unrechte, damit %S.404 jeder einzelne und ganze v"olker sich, an dem unentwendbaren %S.404 schatz erfreuen, berathen, tr"osten, ermuthigen, und ein %S.404 beispiel holen. wenn also, mit einem wort, die geschichte weder %S.404 andern zweck noch absicht haben soll, als welche das epos hat, %S.404 so musz sie aus dieser betrachtung aufh"oren, eine dienerin zu %S.404 sein der politik oder der jurisprudenz oder jeder andern wissenschaft. %S.404 und dasz wir endlich diesen vortheil erlangen, kann %S.404 durch die kenntnis der volkssagen erleichtert und mit der zeit %S.404 gewonnen werden. %S.404