% @book{bg_hr_khm_1857, % author = "Br{\"{u}}der Grimm", % editor = "Heinz R{\"{o}}lleke", % title = "{K}inder- und {H}ausm{\"{a}}rchen", % publisher = "Philipp Reclam jun. GmbH {\&} Co.", % address = "Stuttgart, Germany", % year = "1991", % volume = "2", % series = "Universal-Bibliothek Nr. 3192 [6]", % isbn = "3-15-003192-3", % language = "German", % colophon = "BR{\"{U}}DER GRIMM % Kinder- und Hausm{\"{a}}rchen % AUSGABE LETZTER HAND % MIT DEN ORIGINALANMERKUNGEN % DER BR{\"{U}}DER GRIMM % MIT EINEM ANHANG % S{\"{A}}MTLICHER, NICHT IN ALLEN AUFLAGEN % VER{\"{O}}FFENTLICHTER M{\"{A}}RCHEN % UND HERKUNFTSNACHWEISEN HERAUSGEGEBEN % VON HEINZ R{\"{O}}LLEKE % PHILIPP RECLAM JUN. STUTTGART, 1980/1991" } % % Originaltext f"ur das LaTeX-Quelldokument % bearbeitet und redigiert von M. Hirao, am 24. M"arz 2001 % und "uberpr"uft von Y. Nagata am 31. M"arz 2001 % \maerchentitel{KHM 198: Jungfrau Maleen} \markright{KHM 198: Jungfrau Maleen} Es war einmal ein K"onig, der hatte einen Sohn, der warb %S.419 um die Tochter eines m"achtigen K"onigs, die hie"s Jungfrau %S.419 Maleen und war wundersch"on. Weil ihr Vater sie %S.419 einem andern geben wollte, so ward sie ihm versagt. Da %S.419 sich aber beide von Herzen liebten, so wollten sie nicht %S.419 voneinander lassen, und die Jungfrau Maleen sprach zu %S.419 ihrem Vater: >>Ich kann und will keinen andern zu meinem %S.419 Gemahl nehmen.<< Da geriet der Vater in Zorn und %S.419 lie"s einen finstern Turn bauen, in den kein Strahl von %S.419 Sonne oder Mond fiel. Als er fertig war, sprach er: %S.419 >>Darin sollst du sieben Jahre lang sitzen, dann will ich %S.419 kommen und sehen, ob dein trotziger Sinn gebrochen %S.419 ist.<< F"ur die sieben Jahre ward Speise und Trank in den %S.419 Turn getragen, dann ward sie und ihre Kammerjungfer %S.419 hineingef"uhrt und eingemauert und also von Himmel %S.419 und Erde geschieden. Da sa"sen sie in der Finsternis, %S.419 wu"sten nicht, wann Tag oder Nacht anbrach. Der %S.419 K"onigssohn ging oft um den Turn herum und rief ihren %S.419 Namen, aber kein Laut drang von au"sen durch die %S.419 dicken Mauern. Was konnten sie anders tun als jammern %S.419 und klagen? Indessen ging die Zeit dahin, und an der %S.419 Abnahme von Speise und Trank merkten sie, da"s die %S.419 sieben Jahre ihrem Ende sich n"aherten. Sie dachten, der %S.419 Augenblick ihrer Erl"osung w"are gekommen, aber kein %S.419 Hammerschlag lie"s sich h"oren, und kein Stein wollte aus %S.419 der Mauer fallen: es schien, als ob ihr Vater sie vergessen %S.419 h"atte. Als sie nur noch f"ur kurze Zeit Nahrung hatten %S.419 und einen j"ammerlichen Tod voraussahen, da sprach die %S.419 Jungfrau Maleen: >>Wir m"ussen das Letzte versuchen und %S.419 sehen, ob wir die Mauer durchbrechen.<< Sie nahm das %S.419 Brotmesser, grub und bohrte an dem M"ortel eines Steins, %S.419 und wenn sie m"ud war, so l"oste sie die Kammerjungfer %S.419 ab. Nach langer Arbeit gelang es ihnen, einen Stein %S.420 herauszunehmen, dann einen zweiten und dritten, und %S.420 nach drei Tagen fiel der erste Lichtstrahl in ihre Dunkelheit, %S.420 und endlich war die "Offnung so gro"s, da"s sie %S.420 hinausschauen konnten. Der Himmel war blau, und eine %S.420 frische Luft wehte ihnen entgegen, aber wie traurig sah %S.420 ringsumher alles aus: das Schlo"s ihres Vaters lag in %S.420 Tr"ummern, die Stadt und die D"orfer waren, so weit man %S.420 sehen konnte, verbrannt, die Felder weit und breit verheert: %S.420 keine Menschenseele lie"s sich erblicken. Als die %S.420 "Offnung in der Mauer so gro"s war, da"s sie hindurchschl"upfen %S.420 konnten, so sprang zuerst die Kammerjungfer %S.420 herab, und dann folgte die Jungfrau Maleen. Aber wo %S.420 sollten sie sich hinwenden? Die Feinde hatten das ganze %S.420 Reich verw"ustet, den K"onig verjagt und alle Einwohner %S.420 erschlagen. Sie wanderten fort, um ein anderes Land zu %S.420 suchen, aber sie fanden nirgend ein Obdach oder einen %S.420 Menschen, der ihnen einen Bissen Brot gab, und ihre %S.420 Not war so gro"s, da"s sie ihren Hunger an einem Brennnesselstrauch %S.420 stillen mu"sten. Als sie nach langer Wanderung %S.420 in ein anderes Land kamen, boten sie "uberall ihre %S.420 Dienste an, aber wo sie anklopften, wurden sie abgewiesen, %S.420 und niemand wollte sich ihrer erbarmen. Endlich %S.420 gelangten sie in eine gro"se Stadt und gingen nach dem %S.420 k"oniglichen Hof. Aber auch da hie"s man sie weitergehen, %S.420 bis endlich der Koch sagte, sie k"onnten in der %S.420 K"uche bleiben und als Aschenputtel dienen. %S.420 Der Sohn des K"onigs, in dessen Reich sie sich befanden, %S.420 war aber gerade der Verlobte der Jungfrau Maleen gewesen. %S.420 Der Vater hatte ihm eine andere Braut bestimmt, die %S.420 ebenso h"a"slich von Angesicht als b"os von Herzen war. %S.420 Die Hochzeit war festgesetzt und die Braut schon angelangt, %S.420 bei ihrer gro"sen H"a"slichkeit aber lie"s sie sich vor %S.420 niemand sehen und schlo"s sich in ihre Kammer ein, und %S.420 die Jungfrau Maleen mu"ste ihr das Essen aus der K"uche %S.420 bringen. Als der Tag herankam, wo die Braut mit dem %S.420 Br"autigam in die Kirche gehen sollte, so sch"amte sie sich %S.421 ihrer H"a"slichkeit und f"urchtete, wenn sie sich auf der %S.421 Stra"se zeigte, w"urde sie von den Leuten verspottet und %S.421 ausgelacht. Da sprach sie zur Jungfrau Maleen: >>Dir %S.421 steht ein gro"ses Gl"uck bevor, ich habe mir den Fu"s %S.421 vertreten und kann nicht gut "uber die Stra"se gehen; du %S.421 sollst meine Brautkleider anziehen und meine Stelle einnehmen: %S.421 eine gr"o"sere Ehre kann dir nicht zuteil werden.<< %S.421 Die Jungfrau Maleen aber schlug es aus und sagte: %S.421 >>Ich verlange keine Ehre, die mir nicht geb"uhrt.<< Es war %S.421 auch vergeblich, da"s sie ihr Gold anbot. Endlich sprach %S.421 sie zornig: >>Wenn du mir nicht gehorchst, so kostet es %S.421 dir dein Leben: ich brauche nur ein Wort zu sagen, so %S.421 wird dir der Kopf vor die F"u"se gelegt.<< Da mu"ste sie %S.421 gehorchen und die pr"achtigen Kleider der Braut samt %S.421 ihrem Schmuck anlegen. Als sie in den k"oniglichen Saal %S.421 eintrat, erstaunten alle "uber ihre gro"se Sch"onheit, und %S.421 der K"onig sagte zu seinem Sohn: >>Das ist die Braut, die %S.421 ich dir ausgew"ahlt habe und die du zur Kirche f"uhren %S.421 sollst.<< Der Br"autigam erstaunte und dachte: >>Sie gleicht %S.421 meiner Jungfrau Maleen, und ich w"urde glauben, sie %S.421 w"are es selbst, aber die sitzt schon lange im Turn gefangen %S.421 oder ist tot.<< Er nahm sie an der Hand und f"uhrte sie %S.421 zur Kirche. An dem Wege stand ein Brennesselbusch, da %S.421 sprach sie: %S.421 \begin{verse} >>Brennettelbusch, \\ %S.421 Brennettelbusch so klene, \\ %S.421 wat steist du hier allene? \\ %S.421 Ik hef de Tyt geweten, \\ %S.421 da hef ik dy ungesaden, \\ %S.421 ungebraden eten.<< %S.421 \end{verse} >>Was sprichst du da?<< fragte der K"onigssohn. >>Nichts<<, %S.421 antwortete sie, >>ich dachte nur an die Jungfrau Maleen.<< %S.421 Er verwunderte sich, da"s sie von ihr wu"ste, schwieg aber %S.421 still. Als sie an den Steg vor dem Kirchhof kamen, sprach %S.421 sie: %S.421 \begin{verse} >>Karkstegels, brik nich, \\ %S.422 b"un de rechte Brut nich.<< %S.422 \end{verse} >>Was sprichst du da?<< fragte der K"onigssohn. >>Nichts<<, %S.422 antwortete sie, >>ich dachte nur an die Jungfrau Maleen.<< %S.422 >>Kennst du die Jungfrau Maleen?<< >>Nein<<, antwortete %S.422 sie, >>wie sollt ich sie kennen, ich habe nur von ihr %S.422 geh"ort.<< Als sie an die Kircht"ure kamen, sprach sie %S.422 abermals: %S.422 \begin{verse} >>Karkend"ar, brik nich, \\ %S.422 b"un de rechte Brut nich.<< %S.422 \end{verse} >>Was sprichst du da?<< fragte er. >>Ach<<, antwortete sie, %S.422 >>ich habe nur an die Jungfrau Maleen gedacht.<< Da zog %S.422 er ein kostbares Geschmeide hervor, legte es ihr an den %S.422 Hals und hakte die Kettenringe ineinander. Darauf traten %S.422 sie in die Kirche, und der Priester legte vor dem %S.422 Altar ihre H"ande ineinander und verm"ahlte sie. Er %S.422 f"uhrte sie zur"uck, aber sie sprach auf dem ganzen Weg %S.422 kein Wort. Als sie wieder in dem k"oniglichen Schlo"s %S.422 angelangt waren, eilte sie in die Kammer der Braut, %S.422 legte die pr"achtigen Kleider und den Schmuck ab, zog %S.422 ihren grauen Kittel an und behielt nur das Geschmeide %S.422 um den Hals, das sie von dem Br"autigam empfangen %S.422 hatte. %S.422 Als die Nacht herankam und die Braut in das Zimmer des %S.422 K"onigssohns sollte gef"uhrt werden, so lie"s sie den %S.422 Schleier "uber ihr Gesicht fallen, damit er den Betrug %S.422 nicht merken sollte. Sobald alle Leute fortgegangen %S.422 waren, sprach er zu ihr: >>Was hast du doch zu dem %S.422 Brennesselbusch gesagt, der an dem Weg stand?<< >>Zu %S.422 welchem Brennesselbusch?<< fragte sie, >>ich spreche mit %S.422 keinem Brennesselbusch.<< >>Wenn du es nicht getan hast, %S.422 so bist du die rechte Braut nicht<<, sagte er. Da half sie %S.422 sich und sprach: %S.422 \begin{verse} >>Mut herut na myne Maegt, \\ %S.422 de my myn Gedanken draegt.<< %S.422 \end{verse} Sie ging hinaus und fuhr die Jungfrau Maleen an: >>Dirne, %S.422 was hast du zu dem Brennesselbusch gesagt?<< >>Ich sagte %S.423 nichts als: %S.423 \begin{verse} Brennettelbusch, \\ %S.423 Brennettelbusch so klene, \\ %S.423 wat steist du hier allene? \\ %S.423 Ik hef de Tyt geweten, \\ %S.423 da hef ik dy ungesaden, \\ %S.423 ungebraden eten.<< %S.423 \end{verse} Die Braut lief in die Kammer zur"uck und sagte: >>Jetzt %S.423 wei"s ich, was ich zu dem Brennesselbusch gesprochen %S.423 habe<<, und wiederholte die Worte, die sie eben geh"ort %S.423 hatte. >>Aber was sagtest du zu dem Kirchensteg, als wir %S.423 dar"ubergingen?<< fragte der K"onigssohn. >>Zu dem Kirchensteg?<< %S.423 antwortete sie, >>ich spreche mit keinem Kirchensteg.<< %S.423 >>Dann bist du auch die rechte Braut nicht.<< %S.423 Sie sagte wiederum: %S.423 \begin{verse} >>Mut herut na myne Maegt, \\ %S.423 de my myn Gedanken draegt.<< %S.423 \end{verse} Lief hinaus und fuhr die Jungfrau Maleen an: >>Dirne, %S.423 was hast du zu dem Kirchsteg gesagt?<< >>Ich sagte nichts %S.423 als: %S.423 \begin{verse} Karkstegels, brik nich, \\ %S.423 b"un de rechte Brut nich.<< %S.423 \end{verse} >>Das kostet dich dein Leben<<, rief die Braut, eilte aber in %S.423 die Kammer und sagte: >>Jetzt wei"s ich, was ich zu dem %S.423 Kirchsteg gesprochen habe<<, und wiederholte die Worte. %S.423 >>Aber was sagtest du zur Kirchent"ur?<< >>Zur Kirchent"ur?<< %S.423 antwortete sie, >>ich spreche mit keiner Kirchent"ur.<< %S.423 >>Dann bist du auch die rechte Braut nicht.<< Sie ging %S.423 hinaus, fuhr die Jungfrau Maleen an: >>Dirne, was hast du %S.423 zu der Kirchent"ur gesagt?<< >>Ich sagte nichts als: %S.423 \begin{verse} Karkend"ar, brik nich, \\ %S.423 b"un de rechte Brut nich.<< %S.423 \end{verse} >>Das bricht dir den Hals<<, rief die Braut und geriet in %S.423 den gr"o"sten Zorn, eilte aber zur"uck in die Kammer und %S.423 sagte: >>Jetzt wei"s ich, was ich zu der Kirchent"ur gesprochen %S.423 habe<<, und wiederholte die Worte. >>Aber, wo hast %S.424 du das Geschmeide, das ich dir an der Kirchent"ur gab?<< %S.424 >>Was f"ur ein Geschmeide<<, antwortete sie, >>du hast mir %S.424 kein Geschmeide gegeben.<< >>Ich habe es dir selbst um %S.424 den Hals gelegt und selbst eingehakt: wenn du das nicht %S.424 wei"st, so bist du die rechte Braut nicht.<< Er zog ihr den %S.424 Schleier vom Gesicht, und als er ihre grundlose H"a"slichkeit %S.424 erblickte, sprang er erschrocken zur"uck und sprach: %S.424 >>Wie kommst du hierher? Wer bist du?<< >>Ich bin deine %S.424 verlobte Braut, aber weil ich f"urchtete, die Leute w"urden %S.424 mich verspotten, wenn sie mich drau"sen erblickten, so %S.424 habe ich dem Aschenputtel befohlen, meine Kleider %S.424 anzuziehen und statt meiner zur Kirche zu gehen.<< >>Wo %S.424 ist das M"adchen<<, sagte er, >>ich will es sehen, geh und %S.424 hol es hierher.<< Sie ging hinaus und sagte den Dienern, %S.424 das Aschenputtel sei eine Betr"ugerin, sie sollten es in den %S.424 Hof hinabf"uhren und ihm den Kopf abschlagen. Die %S.424 Diener packten es und wollten es fortschleppen, aber es %S.424 schrie so laut um Hilfe, da"s der K"onigssohn seine %S.424 Stimme vernahm, aus seinem Zimmer herbeieilte und %S.424 den Befehl gab, das M"adchen augenblicklich loszulassen. %S.424 Es wurden Lichter herbeigeholt, und da bemerkte er an %S.424 ihrem Hals den Goldschmuck, den er ihm vor der Kirchent"ur %S.424 gegeben hatte. >>Du bist die rechte Braut<<, sagte %S.424 er, >>die mit mir zur Kirche gegangen ist: komm mit mir %S.424 in meine Kammer.<< Als sie beide allein waren, sprach er: %S.424 >>Du hast auf dem Kirchgang die Jungfrau Maleen %S.424 genannt, die meine verlobte Braut war; wenn ich d"achte, %S.424 es w"are m"oglich, so m"u"ste ich glauben, sie st"ande vor %S.424 mir: du gleichst ihr in allem.<< Sie antwortete: >>Ich bin %S.424 die Jungfrau Maleen, die um dich sieben Jahre in der %S.424 Finsternis gefangengesessen, Hunger und Durst gelitten %S.424 und so lange in Not und Armut gelebt hat; aber heute %S.424 bescheint mich die Sonne wieder. Ich bin dir in der %S.424 Kirche angetraut und bin deine rechtm"a"sige Gemahlin.<< %S.424 Da k"u"sten sie einander und waren gl"ucklich f"ur ihr %S.424 Lebtag. Der falschen Braut ward zur Vergeltung der %S.425 Kopf abgeschlagen. %S.425 Der Turn, in welchem die Jungfrau Maleen gesessen %S.425 hatte, stand noch lange Zeit, und wenn die Kinder %S.425 vor"ubergingen, so sangen sie: %S.425 \begin{verse} >>Kling, klang, kloria, \\ %S.425 wer sitt in dissen Toria? \\ %S.425 Dar sitt en K"onigsdochter in, \\ %S.425 die kann ik nich to seen krygn. \\ %S.425 De Muer, de will nich br"aken, \\ %S.425 de Steen, de will nich stechen. \\ %S.425 H"anschen mit de bunte Jak, \\ %S.425 kumm unn folg my achterna.<< %S.425 \end{verse}