% @book{bg_hr_khm_1857, % author = "Br{\"{u}}der Grimm", % editor = "Heinz R{\"{o}}lleke", % title = "{K}inder- und {H}ausm{\"{a}}rchen", % publisher = "Philipp Reclam jun. GmbH {\&} Co.", % address = "Stuttgart, Germany", % year = "1991", % volume = "2", % series = "Universal-Bibliothek Nr. 3192 [6]", % isbn = "3-15-003192-3", % language = "German", % colophon = "BR{\"{U}}DER GRIMM % Kinder- und Hausm{\"{a}}rchen % AUSGABE LETZTER HAND % MIT DEN ORIGINALANMERKUNGEN % DER BR{\"{U}}DER GRIMM % MIT EINEM ANHANG % S{\"{A}}MTLICHER, NICHT IN ALLEN AUFLAGEN % VER{\"{O}}FFENTLICHTER M{\"{A}}RCHEN % UND HERKUNFTSNACHWEISEN HERAUSGEGEBEN % VON HEINZ R{\"{O}}LLEKE % PHILIPP RECLAM JUN. STUTTGART, 1980/1991" } % % Originaltext f"ur das LaTeX-Quelldokument % bearbeitet und redigiert von Y. Nagata, am 13. Februar 2001 % \maerchentitel{KHM 110: Der Jude im Dorn} \markright{KHM 110: Der Jude im Dorn} Es war einmal ein reicher Mann, der hatte einen Knecht, %S.124 der diente ihm flei"sig und redlich, war alle Morgen der %S.124 erste aus dem Bett und abends der letzte hinein, und %S.124 wenn's eine saure Arbeit gab, wo keiner anpacken %S.124 wollte, so stellte er sich immer zuerst daran. Dabei klagte %S.124 er nicht, sondern war mit allem zufrieden und war immer %S.124 lustig. Als sein Jahr herum war, gab ihm der Herr keinen %S.125 Lohn und dachte: >>Das ist das Gescheitste, so spare ich %S.125 etwas, und er geht mir nicht weg, sondern bleibt h"ubsch %S.125 im Dienst.<< Der Knecht schwieg auch still, tat das zweite %S.125 Jahr wie das erste seine Arbeit, und als er am Ende %S.125 desselben abermals keinen Lohn bekam, lie"s er sich's %S.125 gefallen und blieb noch l"anger. Als auch das dritte Jahr %S.125 herum war, bedachte sich der Herr, griff in die Tasche, %S.125 holte aber nichts heraus. Da fing der Knecht endlich an %S.125 und sprach: >>Herr, ich habe Euch drei Jahre redlich %S.125 gedient, seid so gut und gebt mir, was mir von Rechts %S.125 wegen zukommt: ich wollte fort und mich gerne weiter %S.125 in der Welt umsehen.<< Da antwortete der Geizhals: >>Ja, %S.125 mein lieber Knecht, du hast mir unverdrossen gedient, %S.125 daf"ur sollst du mildiglich belohnet werden<<, griff abermals %S.125 in die Tasche und z"ahlte dem Knecht drei Heller %S.125 einzeln auf, >>da hast du f"ur jedes Jahr einen Heller, das %S.125 ist ein gro"ser und reichlicher Lohn, wie du ihn bei %S.125 wenigen Herrn empfangen h"attest.<< Der gute Knecht, %S.125 der vom Geld wenig verstand, strich sein Kapital ein und %S.125 dachte: >>Nun hast du vollauf in der Tasche, was willst du %S.125 sorgen und dich mit schwerer Arbeit l"anger plagen.<< %S.125 Da zog er fort, bergauf, bergab, sang und sprang nach %S.125 Herzenslust. Nun trug es sich zu, als er an ein[em] %S.125 Buschwerk vor"uberkam, da"s ein kleines M"annchen hervortrat %S.125 und ihn anrief: >>Wo hinaus, Bruder Lustig? Ich %S.125 sehe, du tr"agst nicht schwer an deinen Sorgen.<< >>Was %S.125 soll ich traurig sein<<, antwortete der Knecht, >>ich habe %S.125 vollauf, der Lohn von drei Jahren klingelt in meiner %S.125 Tasche.<< >>Wieviel ist denn deines Schatzes?<< fragte ihn %S.125 das M"annchen. >>Wieviel? Drei bare Heller, richtig %S.125 gez"ahlt.<< >>H"ore<<, sagte der Zwerg, >>ich bin ein armer, %S.125 bed"urftiger Mann, schenke mir deine drei Heller: ich %S.125 kann nichts mehr arbeiten, du aber bist jung und kannst %S.125 dir dein Brot leicht verdienen.<< Und weil der Knecht ein %S.125 gutes Herz hatte und Mitleid mit dem M"annchen f"uhlte, %S.125 so reichte er ihm seine drei Heller und sprach: >>In Gottes %S.126 Namen, es wird mir doch nicht fehlen.<< Da sprach das %S.126 M"annchen: >>Weil ich dein gutes Herz sehe, so gew"ahre %S.126 ich dir drei W"unsche, f"ur jeden Heller einen, die sollen %S.126 dir in Erf"ullung gehen.<< >>Aha<<, sprach der Knecht, >>du %S.126 bist einer, der blau pfeifen kann. Wohlan, wenn's doch %S.126 sein soll, so w"unsche ich mir erstlich ein Vogelrohr, das %S.126 alles trifft, wonach ich ziele; zweitens eine Fidel, wenn %S.126 ich darauf streiche, so mu"s alles tanzen, was den Klang %S.126 h"ort; und drittens, wenn ich an jemand eine Bitte tue, so %S.126 darf er sie nicht abschlagen.<< >>Das sollst du alles haben<<, %S.126 sprach das M"annchen, griff in den Busch, und, denk %S.126 einer, da lag schon Fidel und Vogelrohr in Bereitschaft, %S.126 als wenn sie bestellt w"aren. Er gab sie dem Knecht und %S.126 sprach: >>Was du dir immer erbitten wirst, kein Mensch %S.126 auf der Welt soll dir's abschlagen.<< %S.126 >>Herz, was begehrst du nun?<< sprach der Knecht zu sich %S.126 selber und zog lustig weiter. Bald darauf begegnete er %S.126 einem Juden mit einem langen Ziegenbart, der stand und %S.126 horchte auf den Gesang eines Vogels, der hoch oben in %S.126 der Spitze eines Baumes sa"s. >>Gottes Wunder!<< rief er %S.126 aus. >>So ein kleines Tier hat so eine grausam m"achtige %S.126 Stimme! Wenn's doch mein w"are! Wer ihm doch Salz auf %S.126 den Schwanz streuen k"onnte!<< >>Wenn's weiter nichts %S.126 ist<<, sprach der Knecht, >>der Vogel soll bald herunter %S.126 sein<<, legte an und traf aufs Haar, und der Vogel fiel %S.126 herab in die Dornhecken. >>Geh, Spitzbub<<, sagte er zum %S.126 Juden, >>und hol dir den Vogel heraus.<< >>Mein<<, sprach %S.126 der Jude, >>la"s der Herr den Bub weg, so kommt ein %S.126 Hund gelaufen; ich will mir den Vogel auflesen, weil Ihr %S.126 ihn doch einmal getroffen habt<<, legte sich auf die Erde %S.126 und fing an, sich in den Busch hineinzuarbeiten. Wie er %S.126 nun mitten in dem Dorn steckte, plagte der Mutwille den %S.126 guten Knecht, da"s er seine Fidel abnahm und anfing zu %S.126 geigen. Gleich fing auch der Jude an, die Beine zu heben %S.126 und in die H"ohe zu springen; und je mehr der Knecht %S.126 strich, desto besser ging der Tanz. Aber die D"orner %S.127 zerrissen ihm den sch"abigen Rock, k"ammten ihm den %S.127 Ziegenbart und stachen und zwickten ihn am ganzen %S.127 Leib. >>Mein<<, rief der Jude, >>was soll mir das Geigen! %S.127 La"s der Herr das Geigen, ich begehre nicht zu tanzen.<< %S.127 Aber der Knecht h"orte nicht darauf und dachte: >>Du hast %S.127 die Leute genug geschunden, nun soll dir's die Dornhecke %S.127 nicht besser machen<<, und fing von neuem an zu %S.127 geigen, da"s der Jude immer h"oher aufspringen mu"ste %S.127 und die Fetzen von seinem Rock an den Stacheln h"angenblieben. %S.127 >>Au weih geschrien!<< rief der Jude. >>Geb ich %S.127 doch dem Herrn, was Er verlangt, wenn Er nur das %S.127 Geigen l"a"st, einen ganzen Beutel mit Gold.<< >>Wenn du %S.127 so spendabel bist<<, sprach der Knecht, >>so will ich wohl %S.127 mit meiner Musik aufh"oren, aber das mu"s ich dir nachr"uhmen, %S.127 du machst deinen Tanz noch mit, da"s es eine %S.127 Art hat<<, nahm darauf den Beutel und ging seiner %S.127 Wege. %S.127 Der Jude blieb stehen und sah ihm nach und war still, bis %S.127 der Knecht weit weg und ihm ganz aus den Augen war, %S.127 dann schrie er aus Leibeskr"aften: >>Du miserabler Musikant, %S.127 du Bierfiedler: wart, wenn ich dich allein erwische! %S.127 Ich will dich jagen, da"s du die Schuhsohlen verlieren %S.127 sollst: du Lump, steck einen Groschen ins Maul, da"s du %S.127 sechs Heller wert bist<<, und schimpfte weiter, was er nur %S.127 losbringen konnte. Und als er sich damit etwas zugute %S.127 getan und Luft gemacht hatte, lief er in die Stadt zum %S.127 Richter. >>Herr Richter, au weih geschrien! Seht, wie %S.127 mich auf offener Landstra"se ein gottloser Mensch %S.127 beraubt und "ubel zugerichtet hat: ein Stein auf dem %S.127 Erdboden m"ocht sich erbarmen. Die Kleider zerfetzt! %S.127 Der Leib zerstochen und zerkratzt! Mein bi"schen Armut %S.127 samt dem Beutel genommen! Lauter Dukaten, ein St"uck %S.127 sch"oner als das andere: um Gottes willen, la"st den %S.127 Menschen ins Gef"angnis werfen.<< Sprach der Richter: %S.127 >>War's ein Soldat, der dich mit seinem S"abel so zugerichtet %S.127 hat?<< >>Gott bewahr!<< sagte der Jude. >>Einen nackten %S.128 Degen hat er nicht gehabt, aber ein Rohr hat er gehabt %S.128 auf dem Buckel h"angen und eine Geige am Hals; der %S.128 B"osewicht ist leicht zu erkennen.<< Der Richter schickte %S.128 seine Leute nach ihm aus, die fanden den guten Knecht, %S.128 der ganz langsam weitergezogen war, und fanden auch %S.128 den Beutel mit Gold bei ihm. Als er vor Gericht gestellt %S.128 wurde, sagte er: >>Ich habe den Juden nicht anger"uhrt %S.128 und ihm das Geld nicht genommen, er hat mir's aus %S.128 freien St"ucken angeboten, damit ich nur aufh"orte zu %S.128 geigen, weil er meine Musik nicht vertragen konnte.<< %S.128 >>Gott bewahr!<< schrie der Jude. >>Der greift die L"ugen %S.128 wie Fliegen an der Wand.<< Aber der Richter glaubte es %S.128 auch nicht und sprach: >>Das ist eine schlechte Entschuldigung, %S.128 das tut kein Jude<<, und verurteilte den guten %S.128 Knecht, weil er auf offener Stra"se einen Raub begangen %S.128 h"atte, zum Galgen. Als er aber abgef"uhrt ward, schrie %S.128 ihm noch der Jude zu: >>Du B"arenh"auter, du Hundemusikant, %S.128 jetzt kriegst du deinen wohlverdienten Lohn.<< %S.128 Der Knecht stieg ganz ruhig mit dem Henker die Leiter %S.128 hinauf, auf der letzten Sprosse aber drehte er sich um und %S.128 sprach zum Richter: >>Gew"ahrt mir noch eine Bitte, eh %S.128 ich sterbe.<< >>Ja<<, sprach der Richter, >>wenn du nicht um %S.128 dein Leben bittest.<< >>Nicht ums Leben<<, antwortete der %S.128 Knecht, >>ich bitte, la"st mich zu guter Letzt noch einmal %S.128 auf meiner Geige spielen.<< Der Jude erhob ein Zetergeschrei: %S.128 >>Um Gottes willen, erlaubt's nicht, erlaubt's %S.128 nicht.<< Allein der Richter sprach: >>Warum soll ich ihm %S.128 die kurze Freude nicht g"onnen: es ist ihm zugestanden, %S.128 und dabei soll es sein Bewenden haben.<< Auch konnte er %S.128 es ihm nicht abschlagen wegen der Gabe, die dem Knecht %S.128 verliehen war. Der Jude aber rief: >>Au weih, au weih! %S.128 Bindet mich an, bindet mich fest.<< Da nahm der gute %S.128 Knecht seine Geige vom Hals, legte sie zurecht, und wie %S.128 er den ersten Strich tat, fing alles an zu wabern und zu %S.128 wanken, der Richter, die Schreiber und die Gerichtsdiener; %S.128 und der Strick fiel dem aus der Hand, der den Juden %S.129 festbinden wollte; beim zweiten Strich hoben alle die %S.129 Beine, und der Henker lie"s den guten Knecht los und %S.129 machte sich zum Tanze fertig; bei dem dritten Strich %S.129 sprang alles in die H"ohe und fing an zu tanzen, und der %S.129 Richter und der Jude waren vorn und sprangen am %S.129 besten. Bald tanzte alles mit, was auf den Markt aus %S.129 Neugierde herbeigekommen war, alte und junge, dicke %S.129 und magere Leute untereinander; sogar die Hunde, die %S.129 mitgelaufen waren, setzten sich auf die Hinterf"u"se und %S.129 h"upften mit. Und je l"anger er spielte, desto h"oher sprangen %S.129 die T"anzer, da"s sie sich einander an die K"opfe %S.129 stie"sen und anfingen, j"ammerlich zu schreien. Endlich %S.129 rief der Richter ganz au"ser Atem: >>Ich schenke dir dein %S.129 Leben, h"ore nur auf zu geigen.<< Der gute Knecht lie"s %S.129 sich bewegen, setzte die Geige ab, hing sie wieder um %S.129 den Hals und stieg die Leiter herab. Da trat er zu dem %S.129 Juden, der auf der Erde lag und nach Atem schnappte, %S.129 und sagte: >>Spitzbube, jetzt gesteh, wo du das Geld her %S.129 hast, oder ich nehme meine Geige vom Hals und fange %S.129 wieder an zu spielen.<< >>Ich hab's gestohlen, ich hab's %S.129 gestohlen<<, schrie er, >>du aber hast's redlich verdient.<< %S.129 Da lie"s der Richter den Juden zum Galgen f"uhren und als %S.129 einen Dieb aufh"angen. %S.129