% @book{bg_hr_khm_1857, % author = "Br{\"{u}}der Grimm", % editor = "Heinz R{\"{o}}lleke", % title = "{K}inder- und {H}ausm{\"{a}}rchen", % publisher = "Philipp Reclam jun. GmbH {\&} Co.", % address = "Stuttgart, Germany", % year = "1995", % volume = "1", % series = "Universal-Bibliothek Nr. 3191", % isbn = "3-15-003191-5", % language = "German", % colophon = "BR{\"{U}}DER GRIMM % Kinder- und Hausm{\"{a}}rchen % AUSGABE LETZTER HAND % MIT DEN ORIGINALANMERKUNGEN % DER BR{\"{U}}DER GRIMM % MIT EINEM ANHANG % S{\"{A}}MTLICHER, NICHT IN ALLEN AUFLAGEN % VER{\"{O}}FFENTLICHTER M{\"{A}}RCHEN % UND HERKUNFTSNACHWEISEN HERAUSGEGEBEN % VON HEINZ R{\"{O}}LLEKE % PHILIPP RECLAM JUN. STUTTGART, 1980/1995" } % % Originaltext f"ur das LaTeX-Quelldokument % bearbeitet und redigiert von K. OKAMOTO, am 24. Januar 2001 % und "uberpr"uft von Y. Nagata am 27. M"arz 2001 % \maerchentitel{KHM 12: Rapunzel} \markright{KHM 12: Rapunzel} Es war einmal ein Mann und eine Frau, die w"unschten %S.87 sich schon lange vergeblich ein Kind, endlich machte sich %S.87 die Frau Hoffnung, der liebe Gott werde ihren Wunsch %S.87 erf"ullen. Die Leute hatten in ihrem Hinterhaus ein kleines %S.87 Fenster, daraus konnte man in einen pr"achtigen %S.87 Garten sehen, der voll der sch"onsten Blumen und Kr"auter %S.87 stand; er war aber von einer hohen Mauer umgeben, %S.87 und niemand wagte hineinzugehen, weil er einer Zauberin %S.87 geh"orte, die gro"se Macht hatte und von aller Welt %S.87 gef"urchtet ward. Eines Tags stand die Frau an diesem %S.87 Fenster und sah in den Garten hinab, da erblickte sie ein %S.87 Beet, das mit den sch"onsten Rapunzeln bepflanzt war; %S.87 und sie sahen so frisch und gr"un aus, da"s sie l"ustern ward %S.87 und das gr"o"ste Verlangen empfand, von den Rapunzeln %S.87 zu essen. Das Verlangen nahm jeden Tag zu, und da sie %S.87 wu"ste, da"s sie keine davon bekommen konnte, so fiel sie %S.87 ganz ab, sah bla"s und elend aus. Da erschrak der Mann %S.87 und fragte: >>Was fehlt dir, liebe Frau?<< >>Ach<<, antwortete %S.87 sie, >>wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten %S.87 hinter unserm Hause zu essen kriege, so sterbe ich.<< Der %S.87 Mann, der sie liebhatte, dachte: >>Eh du deine Frau %S.87 sterben l"assest, holst du ihr von den Rapunzeln, es mag %S.87 kosten, was es will.<< In der Abendd"ammerung stieg er %S.87 also "uber die Mauer in den Garten der Zauberin, stach in %S.87 aller Eile eine Handvoll Rapunzeln und brachte sie seiner %S.87 Frau. Sie machte sich sogleich Salat daraus und a"s sie in %S.87 voller Begierde auf. Sie hatten ihr aber so gut, so gut %S.87 geschmeckt, da"s sie den andern Tag noch dreimal soviel %S.87 Lust bekam. Sollte sie Ruhe haben, so mu"ste der Mann %S.87 noch einmal in den Garten steigen. Er machte sich also in %S.87 der Abendd"ammerung wieder hinab, als er aber die %S.87 Mauer herabgeklettert war, erschrak er gewaltig, denn er %S.87 sah die Zauberin vor sich stehen. >>Wie kannst du es %S.88 wagen<<, sprach sie mit zornigem Blick, >>in meinen Garten %S.88 zu steigen und wie ein Dieb mir meine Rapunzeln zu %S.88 stehlen? Das soll dir schlecht bekommen.<< >>Ach<<, antwortete %S.88 er, >>la"st Gnade f"ur Recht ergehen, ich habe mich %S.88 nur aus Not dazu entschlossen: meine Frau hat Eure %S.88 Rapunzeln aus dem Fenster erblickt und empfindet ein %S.88 so gro"ses Gel"usten, da"s sie sterben w"urde, wenn sie %S.88 nicht davon zu essen bek"ame.<< Da lie"s die Zauberin in %S.88 ihrem Zorne nach und sprach zu ihm: >>Verh"alt es sich %S.88 so, wie du sagst, so will ich dir gestatten, Rapunzeln %S.88 mitzunehmen, soviel du willst, allein ich mache eine %S.88 Bedingung: Du mu"st mir das Kind geben, das deine Frau %S.88 zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen, und ich %S.88 will f"ur es sorgen wie eine Mutter.<< Der Mann sagte in %S.88 der Angst alles zu, und als die Frau in Wochen kam, so %S.88 erschien sogleich die Zauberin, gab dem Kinde den %S.88 Namen \emph{Rapunzel} und nahm es mit sich fort. %S.88 Rapunzel ward das sch"onste Kind unter der Sonne. Als %S.88 es zw"olf Jahre alt war, schlo"s es die Zauberin in einen %S.88 Turm, der in einem Walde lag und weder Treppe noch %S.88 T"ure hatte, nur ganz oben war ein kleines Fensterchen. %S.88 Wenn die Zauberin hinein wollte, so stellte sie sich unten %S.88 hin und rief: %S.88 \begin{verse} >>Rapunzel, Rapunzel, \\ %S.88 la"s mir dein Haar herunter.<< %S.88 \end{verse} Rapunzel hatte lange pr"achtige Haare, fein wie gesponnen %S.88 Gold. Wenn sie nun die Stimme der Zauberin vernahm, %S.88 so band sie ihre Z"opfe los, wickelte sie oben um %S.88 einen Fensterhaken, und dann fielen die Haare zwanzig %S.88 Ellen tief herunter, und die Zauberin stieg daran hinauf. %S.88 Nach ein paar Jahren trug es sich zu, da"s der Sohn des %S.88 K"onigs durch den Wald ritt und an dem Turm vor"uberkam. %S.88 Da h"orte er einen Gesang, der war so lieblich, da"s %S.88 er stillhielt und horchte. Das war Rapunzel, die in ihrer %S.88 Einsamkeit sich die Zeit damit vertrieb, ihre s"u"se Stimme %S.89 erschallen zu lassen. Der K"onigssohn wollte zu ihr hinaufsteigen %S.89 und suchte nach einer T"ure des Turms, aber es %S.89 war keine zu finden. Er ritt heim, doch der Gesang hatte %S.89 ihm so sehr das Herz ger"uhrt, da"s er jeden Tag hinaus in %S.89 den Wald ging und zuh"orte. Als er einmal so hinter %S.89 einem Baum stand, sah er, da"s eine Zauberin herankam %S.89 und h"orte, wie sie hinaufrief: %S.89 \begin{verse} >>Rapunzel, Rapunzel, \\ %S.89 la"s dein Haar herunter.<< %S.89 \end{verse} Da lie"s Rapunzel die Haarflechten herab, und die Zauberin %S.89 stieg zu ihr hinauf. >>Ist das die Leiter, auf welcher %S.89 man hinaufkommt, so will ich auch einmal mein Gl"uck %S.89 versuchen.<< Und den folgenden Tag, als es anfing, dunkel %S.89 zu werden, ging er zu dem Turme und rief: %S.89 \begin{verse} >>Rapunzel, Rapunzel, \\ %S.89 la"s dein Haar herunter.<< %S.89 \end{verse} Alsbald fielen die Haare herab, und der K"onigssohn stieg %S.89 hinauf. %S.89 Anfangs erschrak Rapunzel gewaltig, als ein Mann zu ihr %S.89 hereinkam, wie ihre Augen noch nie einen erblickt hatten, %S.89 doch der K"onigssohn fing an, ganz freundlich mit %S.89 ihr zu reden, und erz"ahlte ihr, da"s von ihrem Gesang %S.89 sein Herz so sehr sei bewegt worden, da"s es ihm keine %S.89 Ruhe gelassen und er sie selbst habe sehen m"ussen. Da %S.89 verlor Rapunzel ihre Angst, und als er sie fragte, ob sie %S.89 ihn zum Manne nehmen wollte, und sie sah, da"s er jung %S.89 und sch"on war, so dachte sie: >>Der wird mich lieber %S.89 haben als die alte Frau Gothel<<, und sagte ja und legte %S.89 ihre Hand in seine Hand. Sie sprach: >>Ich will gerne mit %S.89 dir gehen, aber ich wei"s nicht, wie ich herabkommen %S.89 kann. Wenn du kommst, so bring jedesmal einen Strang %S.89 Seide mit, daraus will ich eine Leiter flechten, und wenn %S.89 die fertig ist, so steige ich herunter, und du nimmst mich %S.89 auf dein Pferd.<< Sie verabredeten, da"s er bis dahin alle %S.89 Abend zu ihr kommen sollte, denn bei Tag kam die Alte. %S.89 Die Zauberin merkte auch nichts davon, bis einmal %S.90 Rapunzel anfing und zu ihr sagte: >>Sag Sie mir doch, %S.90 Frau Gothel, wie kommt es nur, Sie wird mir viel %S.90 schwerer heraufzuziehen als der junge K"onigssohn, der ist %S.90 in einem Augenblick bei mir.<< >>Ach du gottloses Kind<<, %S.90 rief die Zauberin, >>was mu"s ich von dir h"oren, ich dachte, %S.90 ich h"atte dich von aller Welt geschieden, und du hast mich %S.90 doch betrogen!<< In ihrem Zorne packte sie die sch"onen %S.90 Haare der Rapunzel, schlug sie ein paarmal um ihre linke %S.90 Hand, griff eine Schere mit der rechten, und ritsch, ratsch %S.90 waren sie abgeschnitten, und die sch"onen Flechten lagen %S.90 auf der Erde. Und sie war so unbarmherzig, da"s sie die %S.90 arme Rapunzel in eine W"ustenei brachte, wo sie in %S.90 gro"sem Jammer und Elend leben mu"ste. %S.90 Denselben Tag aber, wo sie Rapunzel versto"sen hatte, %S.90 machte abends die Zauberin die abgeschnittenen Flechten %S.90 oben am Fensterhaken fest, und als der K"onigssohn %S.90 kam und rief: %S.90 \begin{verse} >>Rapunzel, Rapunzel, \\ %S.90 la"s dein Haar herunter<<, %S.90 \end{verse} so lie"s sie die Haare hinab. Der K"onigssohn stieg hinauf, %S.90 aber er fand oben nicht seine liebste Rapunzel, sondern %S.90 die Zauberin, die ihn mit b"osen und giftigen Blicken %S.90 ansah. >>Aha<<, rief sie h"ohnisch, >>du willst die Frau %S.90 Liebste holen, aber der sch"one Vogel sitzt nicht mehr im %S.90 Nest und singt nicht mehr, die Katze hat ihn geholt und %S.90 wird dir auch noch die Augen auskratzen. F"ur dich ist %S.90 Rapunzel verloren, du wirst sie nie wieder erblicken.<< %S.90 Der K"onigssohn geriet au"ser sich vor Schmerz, und in %S.90 der Verzweiflung sprang er den Turm herab: das Leben %S.90 brachte er davon, aber die Dornen, in die er fiel, zerstachen %S.90 ihm die Augen. Da irrte er blind im Walde umher, %S.90 a"s nichts als Wurzeln und Beeren und tat nichts als %S.90 jammern und weinen "uber den Verlust seiner liebsten %S.90 Frau. So wanderte er einige Jahre im Elend umher und %S.90 geriet endlich in die W"ustenei, wo Rapunzel mit den %S.90 Zwillingen, die sie geboren hatte, einem Knaben und %S.91 M"adchen, k"ummerlich lebte. Er vernahm eine Stimme, %S.91 und sie d"auchte ihn so bekannt; da ging er darauf zu, und %S.91 wie er herankam, erkannte ihn Rapunzel und fiel ihm um %S.91 den Hals und weinte. Zwei von ihren Tr"anen aber %S.91 benetzten seine Augen, da wurden sie wieder klar, und er %S.91 konnte damit sehen wie sonst. Er f"uhrte sie in sein Reich, %S.91 wo er mit Freude empfangen ward, und sie lebten noch %S.91 lange gl"ucklich und vergn"ugt. %S.91